Sprung über Gletscherspalten
Helga Meister
“Und keiner hinkt“ Ausstellungskatalog Kunsthalle Düsseldorf | 2001


Stephan Sachs (Jg. 1958, Pforzheim; 1979 – 1981 École des Beaux Arts de Nantes, 1981 - 1986 Kunstakademie Düsseldorf) ist als Filmemacher Autodidakt. Er hatte in Frankreich Fotoserien und Diaprojektionen geschaffen und sich bei Fritz Schwegler mit Diamontagen beworben, doch die Technik lernte er über Workshops, Experimentalfilmer-Treffen oder eigenes Ausprobieren. Wenn er keine Filmhochschule besuchte, so deshalb, weil er freie Kunst schaffen wollte. Die Hollywood'sche Bilderfabrik wurde seit dem strukturellen Film der 70er Jahre von der Avantgarde kritisch betrachtet. Hinzu kam in der Schwegler-Klasse die Debatte über die Kunst selbst.

Mit jedem Film, anfangs alles kurze Streifen in Super 8 und
16-Millimeterform, entwickelte Sachs sein Handwerkszeug. Nach ersten Fingerübungen mit reflektierenden Alufolien in den Dünen (,,La plage“ ,,Der Strand“,198l) baute er sich für“Lauf"(1982} die erste ,,optische Bank", ein Gerät, mit dem er jedes Filmbild aufnehmen, duplizieren, beliebig wiederholen und in der Geschwindigkeit, der Farbe und den Kontrasten verändern kann. Er legte Brüche und Bildauslassungen ein, und spielte mit dem Ton.

"Fa(h)r (weit)" wurde eine Reise in die Abstraktion, mit einem Schiff, das vom Ufer ablegt, und mit Mast und Drähten, die das Bild immer wieder teilen. Ein Formspiel zwischen Waagerechten und Diagonalen bis zum rhythmisch-musikalischen Ende...

Die Diskussion in den Kolloquien, die Präzision und Pingeligkeit, das Beharren auf Details, was Schwegler in der Klasse forderte, halfen ihm weiter. ln der Technik aber konnte ihm niemand reinreden. Hier ging er seine eigenen Wege.

"Satourne", 1983, 16 mm, enthält schon im Titel ein Wortspiel, das auf die formale Bedeutung verweist. "Tourner" heißt "drehen" "Ça tourne," heißt: Es dreht sich. Und "Saturn," ist der Stern mit seinen Bahnen. Ein konzeptueller Film, er reflektiert Bewegungen, Achsen und Räume. Sachs setzte mit einem simplen Metallkleiderbügel eine Glasscheibe im Winkel von 45 Grad vor das Objektiv und filmte durch diese Scheibe hindurch. Dabei reflektierten die dunklen Teile der pflanzen - hier wurde die Glasscheibe zum Spiegel und warf das Bild zurück, wenn auch aus einer anderen Achse und mithin ein anderes Bild. Durch die helleren Partien, etwa den sonnenbeschienenen Blatträndern, sah die Kamera hindurch - hier blieb die Glasscheibe nur Glas. Dadurch fielen Bewegungen (der Horizont wanderte und gleichzeitig drehten sich die Palmkronen - in einem Bild), zwei Achsen, die beim Schwenken der Kamera vorhanden sind, zwei Perspektiven und zwei Bildräume zusammen.

Es entstanden sehr schöne, sehr merkwürdige neue Bilder, die anfangs völlig unklar und erst durch die Bewegung erkennbar wurden. Der Film war ein Spiel mit Variationen, Rhythmen und Lichtern. Eine Geschichte im herkömmlichen Sinn fand nicht statt.

" Die lnsel", 1984, 16 mm, entstand mit Jean François Guiton und thematisiert das Erzählen, aber die ,,Handlung" läuft sich leer. Zwei Personen sitzen an einem Tisch. Der eine quasselt von einer Südseereise, wobei die Erzählung nicht lippensynchron ist; und der andere trinkt Kaffee, beißt ins Brötchen und erzeugt Geräusche, die synchron sind. Der Film gleitet in verschiedenen Einstellungen von der belanglosen Erzählung in die Belanglosigkeit eines Hoteldekors ab...

" Soria Moria Slott", 1995, löst die Erzählung ganz auf. Ein kleines Segelboot durchquert bei Musik von Bartok langsam diagonal das Bild und entgleitet. Danach sieht man eine Frau, die aus einem Buch vorliest, sie bewegt jedenfalls die Lippen, aber es ist kein Text, nur ein Rauschen da. Das Erzählen wird durch Bewegungen unterbrochen, die Sachs dadurch erzeugt, dass er die Kamera an Seilen im Wald aufhängt. Die Erzählerin verschwindet immer mehr, während die Partien des scheinbar schaukelnden Waldes zunehmen. Die Bewegung löst schließlich das Bild der Erzählerin auf...

ln "Le Dauphin" von 1986 thematisiert er mit einer Treibhaus-Geschichte Klischees in Kunst und Werbung seit dem letzten Jahrhundert - und erhält dafür den Preis der deutschen Filmkritik. Ein Jahr lang verbrachte er nicht etwa auf Reisen in den Tropen, sondern im Schneideraum der Akademie. Der Film besteht aus Pflanzen, Bewegungen, Licht und Farbe. Die mitreißende Welt aus Bildern entlarvt sich als mitteleuropäische Vorstellungswelt der Tropen, mitsamt Anturie als Sinnbild des Erotischen. Die Kamera bewegt sich viel, anfangs gibt es eine Zentralperspektive, dann Drehungen, am Schluss ein theatralisches Feuerwerk. Irgendwann ein Schwanzschlag.

ln "Paramount", 1988, wird er politisch. Der Film beginnt pastoral in einer sanften, grünen Berglandschaft an einem Bach. Es erscheint ein Flaneur der Großstadt. Auf dem Gipfel über Luzern, am Vierwaldstätter See, packt er seinen Tabak aus. Mit einem Flugzeuggeräusch auf der Tonspur schaltet Sachs das nächste Thema ein, den Gewaltmarsch in die höheren Bergregionen. Die Romantik kippt ins Faschistoide; Ausschnitte aus der "Deutschen Himalaya-Expedition" von 1933 sind in Vergrößerunqen und Wiederholungen bearbeitet. Weiße Gebirge türmen sich nun vor einem leicht bewölkten Himmel. Hände und Füße graben sich ins Eis, Stiefel springen über eine Gletscherspalte. Der Film endet, indem ein Adler ins Nest scheißt und der Wanderer vor seinem Bergpanorama endlich seinen Wein trinkt.

" Brut ou à fleur de peau", 1990, spielt im Titel mit Worten: Brut heißt roh, rau, trocken; à fleur de peau bedeutet, dass die Nerven offen liegen, dass es also etwas Empfindliches und Verletzliches gibt. Es ist ein Film über Voyeurismus, über den männlichen Blick. Das Rheinufer zieht vorbei, dazu gibt es Musik aus ,,Der Tod und das Mädchen", die jäh abbricht. Man sieht Beine und Hintern einer Frau, die im Bett liegt. Es kommt das Geräusch eines Motorflugzeugs. Kinder spielen
draußen. Doch die Kamera ist stur sie vergrößert ihr Bild immer mehr. Das führt zwanglos dazu, dass man weniger sieht und sich mehr einbildet, wo man sich an diesem Frauenkörper befindet. Der Film endet ziemlich abrupt im Düsseldorfer Nordpark. Ein kleines Meisterwerk an Tiefenpsychologie.

Sachs wird Lehrbeauftragter an der Kunstakademie Düsseldorf, unterrichtet an der Schule für Gestaltung in Zürich, ist mit dem Goethe-Institut unterwegs, baut Modelle für das Düsseldorfer Filmmuseum, schlägt sich durch. Und arbeitet von 1991 bis 1994 am ersten langen Film, der ihm abermals den Preis der deutschen Filmkritik bringt, mit einem Geldpreis von "arte". Aufgeführt wird er im Fernsehen bislang jedoch nicht. Die Ironie ist offensichtlich nichts fürs Abendprogramm.

"und sahen, was zu machen war..." zitiert im Titel die Heinzelmännchen von Köln. Es wird fleißig am Kaiser-Wilhelm-Denkmal gearbeitet, das 1897 in Erinnerung an die Reichsgründung und den Sieg über Frankreich am Deutschen Eck als "Wacht am Rhein" aufgestellt und 1945 kurz vor Kriegsende durch die Alliierten vom Sockel geschossen wurde. Nur der Kopf blieb erhalten. Die Wiederherstellung besorgte die Bronzegießerei Raimund Kittl im Düsseldorfer Hafen. Stephan Sachs erschien dieser Wiederaufbau der "männlichen Großmachtphantasie aus preußisch-militärischer Zeit" so kurz nach der deutschen Wiedervereinigung mehr als kurios. Er verfolgte über drei Jahre hinweg, wie da Kunst und Handwerk zu einem fragwürdigen Endprodukt führten. Der Film über die Rekonstruktion wurde zugleich zur Dekonstruktion des geistig-politischen Hintergrunds. Während das 14 Meter hohe Werk in der Werkstatt "wuchs", ironisierte und verfremdete er die konservativen Geschichtsbilder. Durch den aktuellen TV-Krieg am Golf sensibilisiert, untersuchte er zugleich den Umgang der Bilder mit dem Krieg.

Stephan Sachs montiert und demontiert Themen, Zeiten und Orte. Er überläßt es dem Betrachter, das Disparate zu erkennen. Obwohl ständig "live" aufgenommen, ergibt sich ein latenter Surrealismus. Handwerkliche Gießereikunst, Zitate deutscher "Kulturfilme", französische Geschichte, Töne von den "Siegern", dann wieder Ziffern und Buchstaben zur Markierung der Skulpturenteile, ein Originalbeitrag vom Schokoladenfabrikanten und Kunstsammler Peter Ludwig oder der Chauvinismus losgelassener Touristen. Kein Dokumentarfilm, kein Spielfilm, kein Experimentalfilm, sondern ein Film der Verweigerungen. Die Arbeit am Styropormodell in der Werkstatt erinnert einerseits an den MerzBau von Kurt Schwitters, andererseits an die Gletscherlandschaft der 30er Jahre-Filme. Das Herumturnen auf dem Busen der germanischen Siegesgöttin verquickt sich mit der Rede von Bundespräsident Theodor Heuss, 1963, der den Denkmal-Rest zum Mahnmal deklarierte, zur Satire im Umgang mit deutscher Geschichte.

Der letzte fertige Film ist "Quay Landing", ein Zeitgeist-Porträt. Zwei coole Schaufensterpuppen sind da, bei denen man nicht weiß, ob sie vielleicht doch leben. Den Hauptteil nimmt eine Szene an der Uferpromenade von Venice Beach ein. Sachs hat sie mit fester Kamera im Mittelpunkt eines Halbkreises der Promenade aufgenommen. Um ihn und sein Gerät rotiert das mobile Völkchen der Radfahrer, Rollschuhläufer und Jogger. Ein Ballett der Körper. Dazu gibt es einen Soundtrack mit sehnsüchtig schwärmerischer Musik und verlangsamten Tönen, die wie die Filmsequenzen zerschnitten und wiederholt werden. Der Fluss der Bewegungen ist in ständigem Laut und Gegenlauf begriffen. Eine Wiederkehr von Endlosschleifen als Abspulen und Zurückspulen, zergliedert lediglich durch die schwarzer Streifen von Baumstämmen. Zum Schluss ist es eine fortschreitende Zerstückelung des Joggens, Radelns und Laufens. Ein Verfolgungsrennen ohne Anlass und ohne Ziel. Jeder läuft und läuft, und wiederholt sich laufend. Der Film scheint durchzurutschen. Die Bilder jagen sich selbst, wie bei Muybridge, nur schneller.

Noch nicht fertig ist "Sugar B.", die Künstlerdarstellung über den begnadeten Jazz-Musiker James Booker aus New Orleans, einen Menschen, der sich gegen seine kommerzielle Auswertung gewehrt hat. Eine Kompromisslosigkeit, die er möglicherweise mit "seinem“ Filmer teilt.